10.

 

Das Wiedersehen mit Gustav, wenn man die zigste Begegnung mit ein und derselben Person innerhalb eines Tages überhaupt als solches bezeichnen will, dauerte nur Sekunden. Denn ich hatte weder Lust noch Zeit, die in Zeitlupe arbeitende Visage des Erstaunens meines nicht unbedingt katakombenkompatiblen Lebenspartners lange zu studieren. Sicher war es anerkennenswert, daß er sich direkt nach der Landung ans Werk gemacht und mit seinen Kollegen bis in die tiefe Nacht hinein in den neu erschlossenen Gang durchgebuddelt hatte. Auch würde dank des aktuellen Durchbruchs Licht in das obere Katakombensystem fallen und unvermeidlich das fragwürdige Treiben der Theosophen beleuchten. Aber mein untrüglicher Instinkt sagte mir, daß die Lösung des Rätsels weder in den Katakomben noch bei der Theosophical Society zu finden sein würde. Dieser Geheimbund mochte vielleicht unheimlich konspirativ und zwielichtig sein, aber harmlos waren die Brüder allemal.

Nein, den Schlüssel zu der grausamen Wahrheit hielt allein der Meister in der Hand. Er nutzte alle aus, um sein Ding durchzuziehen. Dieses Ding, il miracolo, war das eigentliche Motiv der Morde an meinen römischen Artgenossen. Das spürte ich, das wußte ich!

Im Spotlight der von den Schutzhelmen strahlenden Grubenlichter, eingeschneit von Schutt und Staub und mit dem dämlichsten Ausdruck im Gesicht, den die Welt je gesehen hat, gab ich auf dem Steinhaufen wohl keine so tolle Figur ab. Deshalb wunderte ich mich kaum, daß die drei Archäologen mich nach dem ersten Schreck eher mitleidig anstarrten. Gustav versuchte noch mit einer halbherzigen Bewegung, mir den Schmutz vom Rücken abzuklopfen, doch da war ich schon weg.

Ich hechtete vom Schutthaufen herunter und flitzte in Richtung Ausgang. Da es in diesem Gang nur einen einzigen Weg in die Freiheit gab, nämlich den erschlossenen Abschnitt einfach wieder zurück, machte ich mir diesmal keine Sorgen darüber, daß ich mich hätte verlaufen können. Trotz der um mich herrschenden Dunkelheit war es mir während des Sprints vergönnt, Blicke auf einige Kostbarkeiten zu erhaschen. Oft war das Wort INRI in das Gemäuer geritzt, jene Abkürzung für »Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum« auf der Inschrifttafel am Stamm des Kreuzes, an dem Jesus Christus gekreuzigt worden war. Gelegentlich stachen auch künstlerisch sehr ausgeklügelte Reliefs hervor, die Engel mit Heiligenschein und sie umtanzenden kleinen Kindern darstellten. Ich konnte mir schon lebhaft vorstellen, wie Gustav bei der Entdeckung dieses Schatzes mehrfach von jenem Phänomen heimgesucht worden war, auf das er wohl seit der Einführung des Farbfernsehens hatte verzichten müssen: dem Orgasmus!

So faszinierend die an mir vorbeiziehende Galerie auch war, meine Gedanken schweiften ab zu den zurückliegenden Geschehnissen. Diese hatten mir alle Urlaubsstimmung ausgetrieben und statt dessen jenes Feuer beschert, mit dessen Wiederauflodern ich kaum mehr gerechnet hatte. Obwohl die Sache mit Blut und Tod in Verbindung stand und viele Unschuldige dahingerafft worden waren, spürte ich wieder die Leidenschaft. Ich merkte, wie jedes einzelne Atom in meinen Nervenzellen vor Freude Purzelbäume schlug bei der Jagd nach dem Schlächter. Und ob ich es mir eingestehen wollte oder nicht, der wahre Urlaub für einen kranken Geist, wie er in meinem Schädel steckte, war der im Land der noch zu entschlüsselnden Geheimnisse. Kurz, die Sache begann mir echt Spaß zu machen.

Zählen wir also alles zusammen und schauen, was am Ende dabei herauskommt, sprach ich in Gedanken zu mir selbst. Nach dem feierlichen Vortrag des Kapuzenmannes zu urteilen, stellte sich das Wunder für die Theosophen ebenso als ein Mysterium dar wie für mich. Was die Premiere der Offenbarung betraf, wurden i fratelli auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. Dadurch gewann das Ganze an Spannung, und, der alte Trick funktionierte noch immer, deswegen waren sie sogar bereit, noch mehr zu spenden. Anderseits konnte es mit diesem Mysterium nicht weit her sein, wenn sogar Regierungskreise davon Wind bekommen hatten. Denn die beiden Killer oben in der Katakombe hatten nicht gerade wie entflohene Zuchthäusler ausgesehen, die hinter einem Koffer Koks her waren. Ihre adrette Erscheinung hatte eher etwas von »Staatsdienern« an sich gehabt, die alles Mögliche taten, nur nicht in einem Büro sitzen und Formulare abstempeln.

Demnach mißfiel bestimmten Kreisen einer bestimmten Regierung des Meisters Werk, oder man war sich, wobei auch immer, nicht so richtig handelseinig geworden.

All diese Überlegungen riefen in mir die Erinnerung an meinen letzten Traum wach. Träume waren für mich stets der Schlüssel zum Knacken eines Falles gewesen. Bloß hatte ich es immer viel zu spät erkannt. In meinem letzten Traum jedenfalls spielte der Terroranschlag auf die Twin Towers im Jahr 2001 eine bedeutende Rolle. Und vielleicht hatte sich als geistiger Nachhall auch alles niedergeschlagen, was danach mit der Welt passiert war.

Manchmal fühlte ich mich mit Dr. Freud seelenverwandt, aber welche Bedeutung kam bitte schön Antonios Verwandlung von einem Comichelden in eine die Katastrophe im letzten Moment abwendende Rakete zu?

Gab es etwa eine Möglichkeit, die »den definitiven Frieden« über die Welt bringen würde, wie der Meister es in seiner Rede erwähnt hatte? Wie mochte solch ein Friedensstifter wohl aussehen? Und wie paßte Antonios ehemaliges kaltherziges Herrchen in dieses bizarre Bild?

Sollte mir die Gestalt des italienischen Machos zu denken geben oder eher der Umstand, daß Antonio es sich freudig ausgerechnet im Schoß desjenigen bequem machte, der ihn einst so rücksichtslos ausgesetzt hatte?

Vor der nächsten und entscheidenden Frage hatte ich mich bis zuletzt gedrückt, weil mir dazu nicht einmal der Ansatz einer Erklärung einfiel. Warum diese bestialische Mordmethode? Warum ausgerechnet das Ohr beziehungsweise der gesamte Hörapparat, der vom Mörder stets zur Gänze entfernt wurde? Gewiß handelte es sich bei dem felinen Ohr um ein Unikum oder, um es in der Sprache der Werbung zu sagen, um ein Spitzenprodukt. Es ist das empfindlichste Lauschorgan in der Natur und stellt, was die Differenzierungsfähigkeit einzelner Geräusche betrifft, den Gehörsinn anderer Arten weit in den Schatten. Es war also nachvollziehbar, daß Menschen sich mit diesem Akustikwunder näher beschäftigten und es vielleicht sogar für ihre dunklen Machenschaften mißbrauchten. Aber, und dieses Aber demolierte mein Hypothesenkonstrukt wie eine dicke Abrißbirne: 1. Das feline Ohr ist bereits vor Jahrzehnten von Wissenschaftlern bis ins kleinste Detail erforscht und seines noch so lächerlichsten Geheimnisses beraubt worden. Man brauchte also zu Forschungszwecken keine scheußlichen Experimente mit »lebendem Material« zu veranstalten, sondern konnte diesbezügliche Informationen völlig problemlos aus dem Internet saugen.

2. Ich hatte zwar allen Grund, auf unsere Hörtrichter stolz zu sein und sie über den grünen Klee zu loben, doch, fair ist fair, der Mensch hatte inzwischen noch feinere Abhörtechnologien entwickelt und in der Lauscholympiade längst die höchste Stufe des Siegertreppchens erklommen. Wenn einer es heutzutage darauf anlegte, konnte er mit entsprechendem High-Tech aus den tiefsten Tiefen des Weltraums sogar das Bäuerchen eines Wurms zehn Meter unter der Erde hören.

Von uns zu lernen gab es in dieser Abteilung nichts mehr.

Solcherlei Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, während ich mich langsam danach sehnte, endlich etwas anderes vor die Augen zu kriegen als nur Düsternis und das monoton lineare Steinkorsett einer Katakombe. Ich hatte an einem schlauen Quiz teilgenommen, aber als Kandidat auf jedem Level kläglich versagt. Dennoch war das Spiel nicht umsonst gewesen, hatte ich doch ein Gefühl dafür bekommen, wohin die Reise ging.

Eine Frage, diesmal eine handfeste, beschäftigte mich immer noch. Wo würde ich am Ende dieses urchristlichen Schlauchs herauskommen? Hoffentlich nicht inmitten des mörderischen Verkehrs Roms, der auf vierbeinige Verkehrsteilnehmer wie mich so viel Rücksicht zu nehmen pflegte wie ein Lavastrom auf stolze Hausbesitzer. Doch plötzlich wurde mir klar, wo ich mich befand, und gleichzeitig roch ich frische Luft und sah in der Ferne die ersten Konturen eines Ortes, der mir vor Ehrfurcht den Atem verschlagen ließ. »Wahrhaftig!«, rief ich wie der italienische Dichter Francesco Petrarca bereits 1337 aus, »größer ist Rom, als ich glaubte, größer sind seine Trümmer! Schon verwundert mich nicht mehr, daß der Erdkreis von dieser Stadt unterworfen wurde«.

Die Katakombe endete an einem von Spinnweben verhangenen Mauerwerk, in das ein Loch von der respektgebietenden Größe Gustavs geschlagen worden war. Die herabgefallenen Bruchsteine lagen noch überall an der Schwelle verteilt. Ich hüpfte hinaus in die Nacht und betrat über einen rampenartig ansteigenden Weg endlich, endlich das Forum Romanum! Mir frontal gegenüber erhob sich der mächtige Triumphbogen des Septimius Severus, der an die Siege über Parther und Araber und die Stämme im ehemaligen Assyrien erinnern sollte. Das Mondlicht tauchte den gegenüber der Kirche Santi Luca e Martina gelegenen 23x25-Meter-Mammut in einen bläulichen Schimmer. Beeindruckend an dem dreitorigen Bauwerk waren die vier riesenhaften Marmorreliefs, die in überragender Plastizität Szenen dieser Kriege zeigten. Darüber thronten die Siegesgöttinnen mit den Trophäen.

Ich sprang schnell auf einen aus zusammengefallenen Säulen entstandenen Hügel, drehte mich in südöstlicher Richtung und ließ den Blick über das Erbe des Imperiums schweifen, das unmittelbar vor der Morgenröte jedes Technicolor-Panorama eines Sandalenfilms übertraf. Es war gewaltig! Es war titanisch! Es war … wunderschön!

Welch eine weite Ebene, von Ruinen, Gärten und Tempeln umgeben, mit gestürzten Kapitellen, aufrechten einsamen Säulen, Bäumen und einer stummen Wüste bedeckt. Es schien, als seien der aufgewühlte Schutt aus dem ausgegossenen Aschenkrug der Zeit und die Scherben einer großen Welt umhergeworfen worden. Grillen zirpten um die Wette, der warme Wind streichelte hörbar die in großen Teilen grasbewachsenen Überreste. Ein Kloß bildete sich mir im Halse vor Freude, daß ich es tatsächlich bis zu diesem allerheiligsten Grund der Zivilisation geschafft hatte, und der Salutschuß, den ich so gerne in die warme Nacht herausgeschrien hätte, blieb mir in der Kehle stecken: Heil dir, Roma!

Hier bot sich mir auf halber Höhe die Gelegenheit, die Ruinen des Zentralplatzes auf mich wirken zu lassen: von den drei Tempeln unterhalb des Senatorenpalastes und des Tabulariums, der Dei Consentes (der zwölf Gottheiten griechischen Ursprungs), des Kaisers Vespasian und der Göttin Concordia, hinüber zu den Kaiserforen auf der anderen Seite der Via dei Fori Imperiali bis zum Titus-Bogen und dem Kolosseum. All diese Zeugnisse vom Ursprung des Abendlandes erhoben sich als düstere Silhouetten vor mir, die durch die allmählich einsetzende Dämmerung nur Stück um Stück bereit waren, ihre Geheimnisse preiszugeben. Ich tat so, als wären sie welche. In Wahrheit hatte ich schon unzählige Kaminabende mit Gustav verbracht, an denen er dieser goldenen Epoche mittels Tonnen von Literatur noch jedes Geheimnis entlockt hatte, und ich, im Zentrum der Dokumente den Schlaf vortäuschend, gleich mit.

Auf dem Forum spiegelte sich die gesamte Macht und Geschichte der Stadt Rom und des Imperiums wider; hier wurden Ruhm, Glanz und Ansehen Roms demonstriert.

Das Gelände war ursprünglich ein sumpfiges Tal in der Mitte der Sieben Hügel, auf denen die Menschen zunächst siedelten. Die enge Verbindung von Wirtschaft und Justiz, Religion und Politik, die Zunahme an Macht und Einfluß des römischen Staatswesens wurde hier mit prächtigen Bauten und herrlichen Kunstwerken dokumentiert. Die Vertreter des öffentlichen Lebens, die Volkstribunen, Beamten, Senatoren, Konsuln und Kaiser verschönerten durch eindrucksvolle Bauwerke und Standbilder über Jahrhunderte das Zentrum ihres Reiches, in dem Neuerbautes neben Altem und Geordnetes neben zufällig Entstandenem schließlich einen dichtbebauten Komplex bildeten.

Nun war dieser einstige Nabel der Welt eine Ruinenstadt geworden, eine tote Stadt, in der in solch einsamen Stunden die Geister vielleicht zusammentrafen, ihr Lebenswerk zerbröckelt und verfallen sahen und darüber in einem herzergreifenden Chor bitterlich weinten.

»O ihr Kaiser, o ihr edlen Bürger Roms, o ihr Sklaven, und nicht zu vergessen o ihr Spitzohren, die ihr gewiß auch zu jener Zeit das Rattenpack das Fürchten gelehrt habt, o ihr Herrscher des Universums!« rief ich im Geiste zu all diesen traurigen toten Seelen und bildete mir ein, daß meine Stimme imposant nachhallte. »Weint nicht, ihr Unerreichten, denn euer Tun war nicht für die Katz –

wenn ich mir mal einen Insiderwitz erlauben darf. Wir alle sind dem Tod geweiht, und selbst das Wenige, das wir der Nachwelt hinterlassen wie zum Beispiel den Afro-Look oder das Wort »Girlie« ist nicht von Bestand. Alles vergeht. Aber auf immer und ewig bleibt das Schöne, das ein Schöngeist ersonnen hat. Doch auch die armen Teufel, die diese Steine den lieben langen Tag gebuckelt und geklopft haben und nach Feierabend sicher kaum noch großartig über die richtige Farbe der Tapeten gefachsimpelt haben dürften, sind nicht vergessen. Ihr seid eine Supermacht gewesen, und keine Supermacht der Welt hat je etwas Schöneres erschaffen. Ob es wert war, dafür die komplette Welt zu unterjochen, darüber mögen eure inflationären Götter richten. Aber was ihr geschaffen habt, ihr habt damit stets für die ganze Menschheit gesprochen.

Nichts bleibt im atemlosen Weltenlauf, doch das wird bleiben!«

So sprach ich zu den Gespenstern im Mondschein und glaubte von ihnen ein Zeichen des Dankes durch eine plötzlich aufkommende Windböe erhalten zu haben. Von meinem erhöhten Standpunkt aus waren in der antiken Scherenschnittlandschaft weder eine Menschenseele noch die Spur einer anderen Kreatur zu sehen. Sogar die Vögel hatten mit ihrem Geträller und Geschnatter noch nicht losgelegt, so daß ich mir auf dem silbrig glänzenden kolossalen Platz allmählich wie in einer verlassenen größenwahnsinnigen Theaterkulisse vorkam.

Und wieder hätte ich eine recht elegische Rede halten können: »O Antonio, du rosa Schwarzer, du cronista di Roma, wo bist du jetzt, da ich dich so sehr brauche? Du warmer Bruder im Herzen, der du mich hast köstlichen Abfall fressen lassen, du, der du mein Haupt wie versprochen auf samtene Kissen gebettet hast, kannst du vielleicht endlich deine blöde Schnarcherei beenden, deinen Hintern bewegen und dich gefälligst auf die Suche nach mir machen! Sonst werde ich nämlich tatsächlich noch eine schlimme Aversion gegen euch Tücken entwickeln! Herrgott, ich brauche dich so!«

Ja, das war der desolate Stand der Dinge. Was sollte ich in diesem Eldorado für Lateininschriften-Freaks nun anfangen? Samantha war verschwunden, Giovanni ebenso, und ohne einen weiteren brauchbaren Hinweis und eine leitende Pfote, die mich durch das geheimnisvolle Labyrinth Roms führte, war ich aufgeschmissen.

Eigentlich hätte ich reumütig zu Gustav zurückkehren und mich bei ihm Liebkind machen müssen, damit er mich wieder ins überschaubare Idyll der Hinterhofgärten verfrachtete. Dann würde zwar der Fall nicht gelöst werden, doch geben wir es unter uns Kriminalisten zu, mehr als die Hälfte aller Verbrechen bleibt ungelöst.

Wie so oft in verzwickten Lagen wurde ich unversehens von einem Einfall heimgesucht, der mit der eigentlichen Sache absolut nichts zu tun hatte: Die Mona Lisa hängt im Louvre und wird gegen Diebstahl von einer Alarmanlage geschützt, deren Raffinesse sich wahrscheinlich nicht einmal Bill Gates erschließen dürfte. Und die Insel Manhattan steht mittlerweile vermutlich unter solch einem undurchlässigen Sicherheitsschirm, daß nicht einmal eine Kanalratte ohne einwandfreie Ausweispapiere da hineinschlüpfen könnte. Und hier, auf dem Forum Romanum, in der Wiege der Menschheit … nichts, einfach gar nichts! Man sah nirgendwo Wachmänner patrouillieren, keine Schranken aus Laserlicht im Dunkeln rötlich glühen und keine Videokameras hin- und herschwenken. Hatten die Verantwortlichen dieses Weltkulturerbes denn überhaupt keine Sorge, daß in einer schönen Nacht Typen mit so ausgefallenen Namen wie »Zahnstocher-Edi« oder »Monokel-Max« vorbeischauen, einen der Tempel in einen Laster verladen und unbemerkt wieder verschwinden könnten? Ich meine, selbst der Kopf einer Statue aus dem Forum hätte auf dem archäologischen Schwarzmarkt so viel eingebracht, daß ein Ganove bis ans Ende seiner Tage ausgesorgt hätte.

Oder hielten es sogar die größten Ganoven für ein Sakrileg, ihre langen Finger in Caesars Schatztruhe zu stecken?

Ich wußte darauf keine gescheite Antwort, und noch weniger wußte ich, ob ich nicht einen Hinweis übersehen hatte. In diesem Zusammenhang ging mir aber auf, daß ich mich in einer weitaus privilegierteren Position befand als ein Tourist, der sich tagsüber unter der allen mystischen Zauber raubenden Sonne mit seinesgleichen rottenhaft durch die geballte Antike schieben mußte. Ja, warum eigentlich nicht? Wenn ich schon einmal hier war und wenn schon die Anlage wie extra für mich abgesperrt dalag, konnte ich doch einen Rundgang unternehmen, wobei mir mein Gedächtnis als Touristenführer dienen mußte. Offengesagt blieb mir auch nichts anderes übrig, nachdem ich sowohl der wenigen römischen Freunde als auch der Orientierung in jederlei Hinsicht verlustiggegangen war.

Ich verließ den Säulenhaufen mit einem eleganten Satz und begann meine Route durch die Via Sacra. Direkt vor mir lag der Lapis Niger, der schwarze Stein, ein Fußbodenquadrat aus schwarzem Marmor. Darunter soll sich das Grab des Romulus, des Gründers von Rom, befinden. Die Stelle glänzte milchig im Mondlicht, und ich bekam vor Ehrfurcht eine Gänsehaut. Links von mir sah ich die Basilica Aemilia, das einzig erhaltene Gebäude aus republikanischer Zeit. Der Name steht wahrscheinlich für »Königshalle«. Die Basilika hatte unter anderem als Börse und Gerichtsaal gedient.

Und so ging es Sehenswürdigkeit für Sehenswürdigkeit weiter, von mir mit immer größer werdenden Augen betrachtet und mit angehaltenem Atem genossen. Hier die Fundamente und Säulenstümpfe der großen Basilica Julia, dort die Überreste des Caesar-Tempels. Dann endlich der Vesta-Tempel und das Haus der Vestalinnen – dieser Rundtempel bewahrte in altrömischer Zeit das »Heilige Feuer« unter der Obhut der Vestalinnen-Priesterinnen. Die zum Dienst am Heiligen Feuer auserwählten Jungfrauen stammten aus den vornehmsten Geschlechtern Roms. Sie wurden schon als Kinder aufgenommen und mußten 30

Jahre lang bleiben; falls sie die Regel der Keuschheit verletzten, wurden sie lebendig in einem Verließ begraben. Was tat man nicht alles für die Tradition!

Nach einer guten Wegstrecke im Osten des Forums angelangt, entschloß ich mich zu einer Verschnaufpause am Fuße des Triumphbogens des Titus. Im Hintergrund ragte die gigantische Silhouette des Kolosseums wie ein frisch gelandetes Invasionsraumschiff einer außerirdischen Macht empor. Immer noch bedeckte das saphirblaue Himmelszelt die Stätte, und immer noch sorgte der große alte Mond für einen bleichen, ja gespenstischen Schein. Er war der einzige, der das alles in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit gesehen hatte. Die Grillen hatten sich inzwischen in einen Gesangsrausch hineingesteigert, und hier und dort sandte ein Glühwürmchen rätselhafte Lichtsignale aus. Die Gespenster waren weiterhin unterwegs, sie waren überall, aber nur allzu bald würde die Sonne aufgehen und sie wieder in ihr Zwischenreich verbannen.

Mein Blick wanderte den Siegesbogen entlang nach oben. Titus, noch so ein Kaiser der Kaiser, der den Hals nicht voll kriegen konnte, siegte mit der Eroberung Jerusalems endgültig über das jüdische Volk und leitete damit dessen Vertreibung aus Palästina und die Zerstreuung über die ganze Welt für Jahrhunderte ein.

Deshalb ist der Titus-Bogen für Juden ein trauriges Denkmal; sie vermeiden es, durch den Torbogen hindurchzugehen. Die alten Wunden schwären noch …

Plötzlich ein gellender Schrei, der die Stille zerschnitt wie eine Geflügelschere! Nicht enden wollende Echos hallten von den Mauern der Monumente wider. Ich erschrak so sehr, daß ich vorübergehend allein das wilde Hämmern meines Herzens vernahm. Ein erneuter Schrei, diesmal etwas leiser, und dann ein sich endlos in die Länge ziehendes Jaulen klangen in den anbrechenden Morgen hinein. Obwohl mir die Art dieser Schreie irgendwie vertraut vorkam, wollte es mir kaum gelingen, mich zu beruhigen. Das gesamte Areal war mit einem Schlag ein gefährlicher Dschungel geworden, der für mich hinter jedem Baum und hinter jedem Strauch ein blutrünstiges Monster versteckt hielt.

Nachdem ich kopflos hin- und hergerannt war, faßte ich schließlich ein wenig Mut und beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Ein in der Mitte gebrochener Säulenschaft von etwa eineinhalb Metern Höhe in unmittelbarer Nähe schien mir als Ausguck besonders gut geeignet. Ich benutzte die Katapultfunktion meiner kräftigen Hinterbeine und war in Sekundenschnelle oben.

Rastlos ließ ich den Kopf umherkreisen, auf der Suche nach etwas Verdächtigem oder einer flüchtigen Bewegung. Doch in der abwechselungsreichen Ruinenlandschaft war nichts zu sehen.

Eine neue Serie von Schreien hob an. Immer noch ziemlich verängstigt, erkannte ich so langsam, daß diese Laute einfach nicht nach malträtierten Kreaturen klangen.

Traf nicht sogar das Gegenteil zu? Da sprang mir aus der Ferne etwas ins Auge, etwas Silberblaues, das die unglaublichen Sprünge einer Antilope nachahmte. Die seltsame Gestalt tanzte zwischen den Überresten von Heiligtümern und pflanzenüberwucherten Schutthügeln mit sich selbst, und es kam mir so vor, als wohnte ich dem Tanz einer sich nur in der magischen Stunde zeigenden Fruchtbarkeitsgöttin bei. Wie ich plötzlich auf Fruchtbarkeit kam? Nun, trotz meines vorgerückten Alters besaß ich nicht nur verdammt scharfe Augen, sondern auch eine verdammt gute Nase.

Und meine Ohren meldeten endlich die erhoffte Korrektur: Es handelte sich nicht um Schreie der Pein, sondern um Schreie der Lust! Was mich persönlich betraf: Heißt es nicht, dafür ist man nie zu alt? Oder zu dumm?

Oder zu tot? Wie dem auch sei, dieser Geruch, den ich zwar gut kannte, doch lange nicht mehr geatmet hatte, drang in meine Nüstern wie der Befehl eines keinen Widerspruch duldenden allmächtigen Herrschers. Mir wurde ganz anders, und ich war nur noch von dem Wunsch beseelt, mich mit der Quelle dieses verhexenden Odeurs zu vereinigen.

Ich schoß wie der Blitz von der geköpften Säule herunter und lief zu den Rudimenten. Als ich die Stelle, an der der Geistertanz von der Ferne zu sehen gewesen war, außer Atem endlich erreichte, wuchs sich die angenehme Betäubung meiner Sinne zum ultimativen Rausch aus.

Denn es war kein Gespenst, dem ich nun in die Augen blickte, sondern eine Heilige! Und nicht genug damit: Sie sprach auch noch in der Sprache der Heiligen!